Was ist ein existenzsicherndes Einkommen?
Fairtrade kämpft seit seiner Gründung für existenzsichernde Einkommen und faire Löhne auf dem globalen Handelsmarkt. Die Botschaft ist klar: Jeder und jede sollte für seine Arbeit gerecht bezahlt werden und niemand sollte Probleme haben, seine Grundbedürfnisse abzudecken. Faire Löhne für Beschäftigte und genügend Einkommen für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern also. Was einleuchtend klingt, ist in der Realität äußerst komplex, denn: Was genau ist eigentlich ein existenzsicherndes Einkommen?
Die Welt verändert sich mit rasanter Geschwindigkeit. Das betrifft ebenso und insbesondere Märkte, Handelsbeziehungen und Lebensentwürfe. Die Anforderungen an ein würdiges Leben wandeln sich stetig und müssen immer wieder neu verhandelt werden. Bedürfnisse und die Kosten, um diese zu decken, variieren je nach Land, Region, Lebensumständen und weiteren Faktoren. Vor 20 Jahren hätten wenige Menschen behauptet, dass etwa der Zugang zum Internet ein Grundbedürfnis darstellt. Heute ist damit eine Vorstellung von freiem Informationsaustausch und Bildungsmöglichkeiten verknüpft, die eine solche Aussage durchaus rechtfertigt.
Feldforschung: Ein Maßstabsproblem
Die Berechnung von existenzsichernden Einkommen erfordert zeit- und kostenintensive Feldforschung in unterschiedlichen Regionen. Wie sind die Arbeitsbedingungen, wie gut ist die Infrastruktur ausgebaut, wieviel Einkommen braucht es, um ein würdiges Leben zu führen? Bisher wurden nur einige wenige Regionen dahingehend untersucht. Die Berechnungen und die Methodik gehen auf das Forscherpaar Martha und Richard Anker zurück, die sich vor allem mit existenzsichernden Löhnen für Arbeiterinnen und Arbeiter auf Plantagen befasst haben.
Aber umfassende Studien sind flächendeckend logistisch und finanziell kaum zu bewältigen: „Löhne und Einkommen variieren von Land zu Land und zwischen Stadt und Land. Wenn wir nicht über verlässliche Zahlen auf der Grundlage der gleichen Methodik verfügen, ist es schwierig, die Ergebnisse zu vergleichen und zu messen, ob wir Fortschritte machen", sagt Wilbert Flinterman, leitender Berater für Arbeiterrechte bei Fairtrade International.
Referenzwerte als neue empirische Methode
Jetzt gibt es jedoch einen effizienteren Weg, um die so wichtigen Daten zu ermitteln, die zeigen, wie viel Geld benötigt wird, damit Produzent*innen ein existenzsicherndes Einkommen generieren und Beschäftigte einen angemessen Lohn verdienen können. Dazu werden Referenzwerte eingesetzt. „Die neuen Referenzwerte sind ein wichtiger nächster Schritt in der Arbeit des fairen Handels zur Messung und Verbesserung der Existenzsicherung für Produzierende auf der ganzen Welt", sagt Flinterman. „Die Referenzwerte sollen keine vollwertigen Studien, wie die von Martha und Richard Anker ersetzen, aber sie können einen globalen Überblick über Hotspots mit niedrigem Einkommen und niedrigen Löhnen liefern, der es dem Fairen Handel dann ermöglicht, Prioritäten zu setzen und Unterstützung zu sammeln, um diese zu bekämpfen."
Die neuen Werte – entwickelt von Richard und Martha Anker – sind mit den lokal spezifischen Studien zu Einkommen und Löhnen kompatibel, decken ganze Länder anstatt bestimmter Ortschaften ab und berechnen die Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. Sie werden besonders nützlich sein, um Regionen zu identifizieren, in denen die Einkommen im Vergleich zu den Bedürfnissen der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sehr niedrig sind und Beschäftigte mit niedrigen Löhnen kämpfen müssen.
Entwicklung und Umsetzung durch Fairtrade International
Die Anker-Referenzwerte wurden mit Unterstützung der Global Living Wage Coalition und der Living Income Community of Practice entwickelt. Als Mitglied beider Gruppen war Fairtrade International zusammen mit der GIZ maßgeblich an der Initiierung und Unterstützung des Projekts beteiligt.
„Die neue Methodik könnte die Zahl der Länder, für die glaubwürdige und international vergleichbare Schätzungen der existenzsichernden Löhne und des existenzsichernden Einkommens vorliegen, deutlich erhöhen", so Martha Anker. „Sie sind in der Erstellung viel kostengünstiger als vollständige Studien, sind aber dennoch international vergleichbar und lassen sich jedes Jahr leicht aktualisieren. Sie werden für viele Entwicklungsländer wertvolle neue Informationen liefern."
Die ersten Anker-Referenzwerte und Länderprofile werden Burkina Faso, die Elfenbeinküste, Peru und Ruanda abdecken. Weitere 16 Referenzwerte und Länderprofile werden im Laufe des Jahres veröffentlicht - das bedeutet, dass mehr Fairtrade-Herkunftsländer als je zuvor abgedeckt werden.
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