Süddeutsche Zeitung: Wenn hinter fairen Versprechen Kinderarbeit steckt

Der Artikel „Wenn hinter fairen Versprechen Kinderarbeit steckt“, der am 13. Oktober in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist, kritisiert die Arbeitsbedingungen auf Fairtrade-zertifizierten Baumwollbetrieben in Indien. Er bezieht sich auf eine gemeinsame Recherche des Südwind-Instituts und des Center for Labour and Research Institutes (CLRA). Dass die Recherche inmitten der ersten Corona-Welle stattgefunden hat, als sich Indien im absoluten Ausnahmezustand befand, wird im Artikel nicht erwähnt. Südwind bemängelt in seiner Zusammenfassung, dass Arbeitsbedingungen und Löhne bei Fairtrade kaum besser seien als im konventionellen Baumwollanbau in Indien und dass die Befragten von Kinderarbeit auf den Baumwollfeldern berichtet hätten. Beide Organisationen führen die Mängel vor allem auf den angewendeten Fairtrade-Standard für Vertragsanbau zurück. Was Vertragsanbau bedeutet, wieso dieser bei Fairtrade erlaubt ist und vor allem, welche Konsequenzen Fairtrade aus den Rechercheergebnissen zieht, erklären wir im Folgenden:

Der Fairtrade-Standard für Vertragsanbau (Contract Production – CP) ist eine Vorstufe der Kleinbauernkooperative (Small Producer Organisation – SPO) mit niedrigeren Einstiegskriterien. Nicht die Produzent*innen selbst, sondern ein sogenannter Promoting Body, ist hier Halter des Fairtrade-Zertifikats. Oft handelt es sich dabei um Entkörnungsbetriebe oder um Exporteur*innen. Baumwollbäuerinnen und -bauern verkaufen ihre Fasern also nicht direkt am Markt, sondern zunächst an den an den Promoting Body. Den Fairtrade-Mindestpreis und die Prämie erhalten sie dennoch. Knapp 80 Prozent der in Deutschland verkauften Fairtrade-Baumwolle stammt von Erzeugerorganisationen, die nach diesem Standard zertifiziert sind. Ohne einen solchen Einstiegsstandard würde man viele Produzent*innen schlichtweg vom fairen Handel ausschließen.

Sowohl im Kleinbauernstandard (SPO) als auch im Standard für Vertragsanbau (CP) stehen selbstständige Kleinbäuerinnen und Kleinbauern im Mittelpunkt. Gerade Baumwollproduzent*innen leben in Indien allerdings selbst am Existenzminimum. In der Regel besitzen und bewirtschaften sie marginale Flächen, die nur wenig Ertrag bringen. Für die Ernte sind sie einerseits auf Hilfe angewiesen, können Erntehelfer*innen andererseits kaum bezahlen. Das ist ein strukturelles Problem. Fairtrade verfolgt daher den Ansatz, zunächst die Farmer*innen selbst zu unterstützen und ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Nur wenn Baumwollproduzent*innen langfristig mehr verdienen, können sie Angestellte besser bezahlen.

Darüber hinaus stellt die Erreichbarkeit von Saisonarbeiter*innen und Tagelöhner*innen eine große Herausforderung dar. Beim Baumwollanbau handelt es sich um einen informellen, nicht organisierten Sektor. Wer heute auf dem Feld hilft, ist morgen längst weitergezogen. Das erschwert den Schutz der Beschäftigten. Wie Tagelöhner*innen dennoch gezielter geschützt werden können, soll die Überarbeitung des Fairtrade-Standards für Vertragsanbau zeigen. Eine Überprüfung des Standards ist bereits beantragt. Dass dies grundsätzlich möglich ist, zeigt das Beispiel von Bananenarbeiter*innen in der Dominikanischen Republik: Dort hat Fairtrade die eigenen Standards bereits nachgeschärft. Fairtrade-zertifizierte Betriebe müssen demnach sicherstellen, dass alle Arbeitskräfte im Land registriert sind, einen Pass erhalten und die gleichen Arbeitsbedingungen und Leistungen erhalten wie dominikanische Kolleg*innen.

Während Südwind selbst einräumt, dass die Kinderarbeit mit der Covid-19-Krise in Verbindung stehen könnte, wird diese Tatsache im Artikel leider mit keinem Wort erwähnt. Dabei befand sich Indien zum Zeitpunkt der Recherche im absoluten Ausnahmezustand: Von März 2020 bis April 2021 waren die Schulen landesweit geschlossen. Mit Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 flohen Tausende Menschen aus den Städten in ihre Heimatprovinzen. Schon mit Beginn der Pandemie hatten Organisationen, darunter Fairtrade, immer wieder vor den drohenden Konsequenzen geschlossener Schulen und steigender Armut durch wegbrechende Lieferketten, Mobilitätseinschränkungen und höhere Lebenshaltungskosten gewarnt. Physische Kontrollen waren aufgrund der sich ausbreitenden Pandemie zeitweise nicht mehr zu verantworten. Eine solche Studie inmitten einer nie da gewesenen Pandemie durchzuführen, halten wir für diskutabel. Die Ergebnisse mögen Aussagen zu den Folgen der Pandemie zulassen, spiegeln jedoch keine durchschnittliche Erntesituation wider.

Erste und vor allem umgehende Konsequenzen haben wir bereits mit der Beantragung einer unabhängigen Untersuchung durch unseren externen Zertifizierer FLOCERT gezogen. Die in der Studie benannten Standardverstöße werden damit umfangreich untersucht. Sollten sie sich als wahr herausstellen, erhalten die Produzentenorganisationen die Möglichkeit, nachzubessern. Geschieht dies nicht, folgt die Dezertifizierung. Das bedeutet, die Organisationen dürfen ihre Baumwolle nicht mehr als Fairtrade-zertifizierte Ware verkaufen.

Um das Bewusstsein für Arbeiter- und Kinderrechte in den betroffenen Regionen zu schärfen und das Wissen der Produzentenorganisationen über die Fairtrade-Standards auszubauen, haben wir zudem eine Reihe von Präventivmaßnahmen ergriffen. Das Produzentennetzwerk NAPP erarbeitet beispielsweise ein neues Schulungsprogramm, an dem die betroffenen Erzeugerorganisationen aktiv mitwirken. Anschließend werden die Ergebnisse und Erfahrungen mit allen Baumwollproduzent*innen in Indien geteilt und die bereits bestehenden Trainingsangebote ergänzt. Neben Schulungsangeboten sind verstärkte physische Kontrollen vor Ort für die bevorstehende Baumwollernte (Ende Oktober bis Mitte Februar) geplant.

Außerdem nehmen wir die Kritik zum Anlass, die eigenen Standards auf den Prüfstand zu stellen. Die Studienerkenntnisse werden sowohl in die Überarbeitung des Standards für Vertragsanbau als auch in die nächste Überarbeitung des Baumwollstandards einfließen. Eine der zentralen Fragen wird dabei die sein, inwiefern wir als Fairtrade-System zusätzliche Anreize schaffen können und sollten, damit Produzentenorganisationen den Übergang vom Vertragsanbau hin zur Kleinbauernkooperative schneller anstreben.

Obwohl wir der tiefen Überzeugung sind, dass es Studien wie diese braucht, um Schwachstellen in einem globalen System wie Fairtrade aufzudecken, dürfen sie keinesfalls dazu führen, dass Produzent*innen, die selbst am Existenzminimum leben, der Marktzugang verwehrt wird. Stattdessen sollten die Gründe für Ausbeutung, etwa die strukturelle Benachteiligung und tief verwurzelte Armut der indischen Landbevölkerung, stärker in den Fokus der öffentlichen Diskussion rücken. Dafür muss die gesamte Branche allerdings über Preise sprechen. Vor allem Unternehmen müssen sich fragen, ob sie bereit sind, ihren Teil zu leisten und Bereitschaft signalisieren, höhere Baumwollpreise zu bezahlen. Nur so erhalten Produzent*innen in Zukunft ein besseres Auskommen und können Arbeiter*innen entsprechende Mindestlöhne bezahlen.

*Der SZ-Artikel suggeriert, dass es um die gesamte textile Lieferkette gehe. Dabei bezieht sich Südwind in der Recherche ausschließlich auf den Anbau der Baumwolle. Die gezogene Verbindung zum VfB Stuttgart, der kürzlich die ersten Produkte nach dem Fairtrade-Textilstandard auf den Markt gebracht hat, ist daher irreführend. Zumal die Baumwolle der neuen Merchandise-Kollektion nicht von den in der Studie genannten Organisationen stammt.

Die Baumwolle wird von Radar & Dhrangadhra Farmers Producers Co. angebaut, wie Verbraucher*innen über den Fairtrade-Code sehen können.