Erfolgsfaktoren des Fairtrade-Textilprogramms in Indien

Professionelle Experten, ein hochmotiviertes Trainerinnen-Team, entwicklungswillige Textilbetriebe und engagierte Modeunternehmen – das sind einige der Erfolgsfaktoren des Fairtrade-Textilprogramms in Indien. Nachdem das Programm 2017 richtig Fahrt aufgenommen hat, laufen die Vorprüfungen sowie Schulungen und Trainings für eine nachhaltige und sozial verträgliche Textilproduktion weiterhin in vollem Gange. Nur mit dem Engagement jedes Einzelnen führt der Multistakeholder-Ansatz zu einem ganzheitlichen Umdenken und neuen Handeln.

Bestandsaufnahmen auf Audit-Niveau

„Fairtrade geht einen großen Schritt weiter“, bemerkt Ananthraman Ganesh, Besitzer und Geschäftsführer von drei Konfektionierungsbetrieben und einer Textildruckerei in Tirupur. „Anderen Zertifizierern reicht es aus, die Dokumente zu sichten und Fragen zu unseren Abläufen zu stellen. Bekommt man Besuch von Fairtrade ist klar, dass sie sich jeden Winkel des Betriebs genau ansehen und spontane Interviews mit den Arbeitern führen. Das ist sehr ungewohnt.“

Ganesh berichtet von einem Pre-Assessment, das im Februar 2018 in seinem Betrieb im Rahmen des Fairtrade-Textilprogramms stattgefunden hat. Mit dieser Art von Bestandsaufnahme finden Experten heraus, welche Anforderungen des Fairtrade-Textilstandards der Betrieb schon erfüllt und in welchen Bereichen noch Schulungen stattfinden müssen, um die Defizite zu beheben. Ein Pre-Assessment ist der Einstieg für jeden Textilbetrieb in das Textilprogramm.

Einer dieser Experten in Indien ist Shivaprasad Shetty, Spezialist für Arbeitnehmerrechte. Mit seinen mehr als zwanzig Jahren Erfahrungen als Auditor für verschiedenen Zertifizierungsunternehmen, weiß er ganz genau, wie er bei seinen Kontrollen die Informationen bekommt, die er benötigt. Eine Vorprüfung ist natürlich nicht ganz so streng wie ein offizielles Audit. Jedoch geht Shivaprasad Shetty alles Schritte genauso ernsthaft und genau durch wie bei einer offiziellen Betriebsinspektion: Dokumente sichten, Rückfragen dazu stellen, das Gelände und die Produktionsstätten besichtigen und spontane Befragungen von Arbeiterinnen und Arbeitern vor Ort starten.

Alle Eindrücke insgesamt geben dem Prüfer ein gutes Bild über den Stand des Betriebs bzgl. der Einhaltung von Sozialstandards. Nur so kann für den jeweiligen Betrieb festgelegt werden, welche Schulungsmaßnahmen und Trainings durch das Textilprogramm notwendig sind. Ein offizieller schriftlicher Bericht geht den Betrieben einige Wochen nach dem Besuch zu. Im Anschluss daran geht Fairtrade gemeinsam mit den leitenden Angestellten die einzelnen Aufgaben aus dem Bericht durch und legt in einem Aktionsplan die Reihenfolge der anzugehenden Maßnahmen fest.

Schulungen und Trainings auf Augenhöhe

Das besondere an den Trainings des Fairtrade-Textilprogramms ist, dass wirklich alle Angestellten eines Betriebs daran teilnehmen. Vom Geschäftsführer bis zur Aushilfskraft, alle werden zu Arbeitnehmerrechte und ein sicheres Arbeitsumfeld für die Arbeiterinnen und Arbeiter aufgeklärt. Die Schulungen finden für leitende Angestellte sowie Facharbeiterinnen und -arbeiter der Produktion getrennt voneinander statt. Die Workshops dauern in der Regel anderthalb bis zwei Stunden. Vor allem in kleinen Betrieben spiegelt das schon die große Bereitschaft wider, sich weiterzuentwickeln zu wollen. Denn in der Zeit stehen die Maschinen und Arbeitsbetrieb still.

Angeleitet werden die Workshops von professionellen Trainern und Trainerinnen des Fairtrade-Produzentennetzwerks für Asien und den Pazifikraum (NAPP). Sie vermitteln die Inhalte des Fairtrade-Textilprogramms zielgruppengerecht auf eine leichtverständliche Art und Weise. Im Ablauf und der Methode ähneln sich die Schulungen für Vorgesetzen und die Angestellten. Aus gutem Grund jedoch werden sie getrennt voneinander abgehalten. Denn vor allem den Angestellten soll Raum gegeben werden, völlig frei und ohne Angst bei den Workshops sprechen zu können.

Die Schulungen für Mitglieder der Geschäftsführung und Vorgesetzte wird mit einer Powerpoint-Präsentation durchgeführt. Für die Angestellten fällt das weg. Beide Trainings leben jedoch von gut angeleiteten Gruppenarbeitsphasen, in denen die Teilnehmerinnen in Teams konkrete Aufgaben mit Bezug zum Fairtrade-Textilstandard bearbeiten.
Sethu Lakshmy, eine der Haupttrainerinnen des Textilprogramms in Indien, erzählt: „Für jeden Betrieb passen wir die Inhalte der Trainings dem Publikum entsprechend an. Je nachdem, wie vertraut der Betrieb schon mit den Anforderungen sozialer Standards ist, treffen wir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer so auf Augenhöhe. Mir persönlich ist es ein großes Anliegen, zur Verbesserung der Arbeitsabläufe für die Beschäftigten beizutragen und so ein Umfeld für offene Kommunikation und Dialog am Arbeitsplatz zu schaffen.“

Verpflichtendes Engagement der Markenunternehmen

Der Fairtrade-Textilstandard ist ein ganzheitliches Konzept, das nicht nur die produzierenden Betriebe, sondern auch die Markenunternehmen in die Pflicht nimmt. Daher ist es selbstverständlich, dass einzelne Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter der deutschen Auftraggeber an den Trainings und Schulungen des Textilprogramms als Beobachter teilnehmen.

Im Mai 2018 hatte Rabea Schafrick von Brands Fashion die Möglichkeit, mehrere Schulungseinheiten zu begleiten: „Es ist schön zu sehen, wie der Funke in den Fairtrade-Workshops auf die Teilnehmer überspringt“, erzählt die Nachhaltigkeitsmanagerin. „In den Einführungsschulungen wirken die Arbeiterinnen und Arbeiter, aber auch die Manager anfänglich verunsichert. Sie wissen nicht genau, wo die Reise hingeht, ob sie sich in einer Prüfungssituation befinden und was von ihnen erwartet wird. Aber in den Schulungen für gewählte Mitglieder der Arbeiterkomitees ist die Stimmung schon ganz anders: Selbstbewusst tragen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Aufgaben vor und wirken sichtlich gestärkt durch das Vertrauen, das ihnen ihre Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzte entgegenbringen.“

Als Auftraggeber sehen sich die Modeunternehmen in der Pflicht, ihre Zulieferer eng bei der Entwicklung des Betriebs im Rahmen des Textilprogramms in Richtung soziale Audits zu begleiten. Nur so bekommen die Unternehmen ein Gefühl dafür, welchen Herausforderungen einzelne Betriebe bei der Umstellung begegnen und wo sie als Auftraggeber noch unterstützen können. Und nur so entwickeln sie Verständnis dafür, welchen Sinn die Umstellung ihrer Einkaufspraktiken hat.