Wann hören wir endlich auf Kinder auszubeuten?

Vor hundert Jahren gründete sich die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Bei einem ihrer Ziele besteht nach wie vor großer Handlungsbedarf: Dem Schutz von Kindern vor ausbeuterischer Arbeit sowie Zwangsarbeit.

Junges Mädchen aus Gujarat in Indien. Bildrechte: TransFair e.V. | Sean Hawkey

Der Ansatz von Fairtrade im Kampf gegen ausbeuterische Kinderarbeit umfasst die gesamte Gemeinschaft in der die Produzent*innen, Arbeiter*innen und ihre Familien leben. Daher hat Fairtrade ein Kontroll- und Präventionssystem gestartet, dass die Jugend einschließt und auf der Gemeinde basiert – der Name: Youth Inclusive Community Based Monitoring and Remediation (YICBMR). © Sean Hawkey

Ein Gastbeitrag von Anita Sheth, Senior Advisor Social Compliance and Development, Fairtrade International

152 Millionen Kinder zwischen fünf und 17 Jahren werden nach aktuellen Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) weltweit als Kinderarbeiter*innen ausgebeutet. Von diesen sind 70 Prozent in der Landwirtschaft tätig.

Wie ist das möglich?

An Verpflichtungen mangelt es nicht. Bei den Sustainable Development Goals (SDGs), den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, hat sich die internationale Gemeinschaft verpflichtet, Kinderarbeit bis 2025 zu beseitigen. Großbritannien, Australien, Frankreich und die Niederlande haben Gesetze und Verordnungen erlassen, die Unternehmen verpflichten, Kinderarbeit in ihren Lieferketten zu bekämpfen. Und auch andere Länder planen diesen Beispielen zu folgen. Aber wie können diese Verpflichtungen in konkrete Ergebnisse umgesetzt werden?

Die Ursachen für Kinderarbeit sind vielfältig. Die finanzielle Unsicherheit bleibt jedoch die Hauptursache. Solange Familien nicht in der Lage sind, einen angemessenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften und es den Jugendlichen an angemessenen Beschäftigungsmöglichkeiten fehlt, bleibt die Beseitigung von Kinderarbeit ein Traum.

Fairtrade setzt sich dafür ein, dass Produzent*innen und Arbeitnehmer*innen einen angemessenen Lebensunterhalt verdienen. Die Fairtrade-Standards verbieten ausbeuterische Kinderarbeit und Zwangsarbeit. Aber im Laufe der Zeit wurde klar, dass Regeln und regelmäßige Kontrollen allein dieses tief verwurzelte Problem nicht lösen können.

Vor zehn Jahren hat Fairtrade deshalb begonnen seine Standards anzupassen. Im Jahr 2009 waren wir das erste Zertifizierungssystem, das einen rechtsbasierten Ansatz zur Beseitigung von Kinderarbeit umsetzte und sicherstellte, dass der Schutz von Kindern ein zentrales Ergebnis ist. Wir haben mit Tausenden von Kindern und Jugendlichen in Fairtrade-Produzentengemeinschaften über ihre Ansichten und Bedürfnisse gesprochen. Wir haben mit NGOs, Kinderrechtsorganisationen, akademischen Institutionen, Unternehmen und Regierungen zusammengearbeitet, um Lösungen zu finden, die alle Akteure in der Lieferkette zusammenbringen.

Im Rückblick auf diese zehn Jahre, fallen vier wichtige Erkenntnisse auf:

Es reicht nicht aus, ausbeuterischer Kinderarbeit in den landwirtschaftlichen Betrieben zu beenden.

Das Thema des diesjährigen Welttages gegen Kinderarbeit lautet: „Kinder sollten nicht auf dem Feld arbeiten, sondern an ihren Träumen“. Dies ist sicherlich ein berechtigtes Motto, aber wir müssen auch über diesen Bereich hinausschauen. Während eines Workshops auf den Philippinen erzählte eine Tochter eines Zuckerrohrbauers, dass „geschlechtsspezifische Gewalt überall in ihrer Gemeinde vorkommt“. Kinder in und um Fairtrade-Produzentenorganisationen erzählen, dass sie in ihren Häusern, Dörfern und Schulen Missbrauch erlebt haben. Wir können Kinderarbeit in der Landwirtschaft nicht bekämpfen, ohne auch die umfassenderen Ursachen von Missbrauch und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche anzugehen. Der Ansatz von Fairtrade umfasst die gesamte Gemeinschaft in der die Produzent*innen, Arbeiter*innen und ihre Familien leben. Daher hat Fairtrade ein Kontroll- und Präventionssystem gestartet, dass die Jugend einschließt und auf der Gemeinde basiert – der Name: Youth Inclusive Community Based Monitoring and Remediation (YICBMR).

Junge Menschen müssen im Mittelpunkt jeder Lösung stehen.

Bei diesem ganzheitlichen Ansatz identifizieren Kinder und Jugendliche Risiken für ihr Wohlbefinden. Sie geben an, wo sie sich sicher und unsicher fühlen, einschließlich der Gründe dafür und entwerfen gemeinsam mit Erwachsenen aus der Gemeinde Präventionsprojekte zur Verbesserung ihres Wohlbefinden und zur Entwicklung der Kinder.

„Der YICBMR-Ansatz von Fairtrade zeigt die vielen möglichen Ursachen von Kinderrechtsverletzungen auf und ermöglicht es der Gemeinde, Entscheidungen zu treffen, um sie anzugehen", sagt Franklina Tweneboah Koduah, eine junge Führungskraft in einer Kakao-Kooperative in Ghana. „Das Programm hat die Mitglieder der Kooperative offener gemacht ihre Erfahrungen auszutauschen, anstatt in die Defensive zu verharren und ausbeuterische Kinderarbeit und andere Kinderrechtsverletzungen zu vertuschen.“

Produzentenorganisationen in mehr als zehn Ländern haben diesen Ansatz erprobt und lokale Gemeinden, Schulen und Bezirksregierungen waren dazu angehalten, sich nicht nur mit Kinderarbeit, sondern auch mit Zwangsarbeit und geschlechtsspezifischer Gewalt zu befassen. Nach dem Workshop auf den Philippinen hat sich eine Zuckerrohrkooperative für den YICBMR-Ansatz entschieden und sich zum Ziel gesetzt, geschlechtsspezifische Gewalt in ihren Gemeinden zu stoppen. Eine Zuckerkooperative auf Fidschi hat sich kürzlich dazu entschlossen, die Methode sowohl bei der Kinderarbeit als auch bei der Zwangsarbeit von Erwachsenen anzuwenden. Wobei die Kooperativen auch anerkannt haben, dass diese inakzeptablen Arbeitspraktiken miteinander verbunden sind, insbesondere in Ländern mit großem Arbeitskräftemangel. Die Produzentenorganisationen in Belize und Indien setzen daher den YICBMR-Ansatz fort.

Fairtrade muss mit Regierungen zusammenarbeiten, um langfristig die Sicherheit von Kindern gewährleisten zu können.

Wenn Kinderarbeit auf Fairtrade-Betrieben oder Plantagen festgestellt wird, besteht unsere oberste Priorität darin, zum Schutz der betroffenen Kinder und gefährdeten Personen zu handeln. Fairtrade-Produzentenorganisationen haben Hunderte von Fällen von Kinderarbeit, Menschenhandel und geschlechtsspezifischer Gewalt gemeldet. Schwere Fälle werden den Behörden zur Weiterverfolgung gemeldet. Dies hat dazu geführt, dass Menschenhändler verhaftet wurden und Kinder einen Neuanfang machen konnten. Aber leider ist dies nicht immer der Fall.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass Kinder, selbst wenn ihre Fälle bekannt wurden und die Kinderarbeit gestoppt wurde, sie nicht immer sicher sind. Sie können zur gleichen Arbeit zurückkehren oder illegale und geheime Wege finden, um weiterhin Geld zum Überleben zu verdienen. Kinder aus Haushalten mit nur einem Elternteil, übernehmen häufig Arbeiten im Haushalt oder kümmern sich um Geschwister oder Großeltern wie ein 16-jähriger Junge berichtete: „Ich habe gearbeitet und Geld verdient, damit ich meine Schulausbildung finanzieren konnte. Meine Eltern können es sich nicht leisten, mir Bücher oder Schuhe zu kaufen. Jetzt kümmere ich mich zu Hause um die Hühner und Ziegen, verdiene aber kein Geld und kann nicht zur Schule gehen.“

Fairtrade spricht mit der ILO, Regierungen und verschiedenen Akteuren in den Lieferketten, um Projekte in der Landwirtschaft für 16- bis 18-Jährige zu unterstützen, die sich zuvor aus gefährlichen Arbeitsverhältnissen zurückgezogen haben. Solche Projekte ermöglichen es uns zu verstehen, welche alternativen Einkommensmöglichkeiten für sie am besten geeignet sind.

Alle in der Lieferkette müssen zusammenarbeiten.

Um Kinderarbeit zu verhindern, verbindet Fairtrade zusätzlich zur Zusammenarbeit mit NGOs und Regierungen auch Unternehmen mit Produzent*innen. Die Vorgaben im „Händler Standard“ von Fairtrade unterstützt dies ebenfalls. Dieser Standard hat bereits einige positive Partnerschaften und Ergebnisse hervorgebracht – es müssen jedoch weitere Unternehmen folgen.

Und wir alle können dazu beitragen. Wir alle haben die Macht, Veränderungen durch unsere Kaufentscheidungen zu bewirken. Das Erzeugen einer größeren Nachfrage nach nachhaltigen und ethisch einwandfrei hergestellten Produkten wird die Unternehmen weiter unter Druck setzen – ebenso wie die Advocacy Arbeit und die Gesetze zum Schutz von Kindern.

Kinder und Jugendliche, egal wo sie leben, träumen von einem gewaltfreien und missbrauchsfreien Leben. Dieser Traum sollte ein grundlegendes Menschenrecht sein. Warten wir nicht weitere hundert Jahre und nicht einmal ein weiteres Jahrzehnt, um es zu verwirklichen.